Samstag, 11. November 2006

Verdichtung

Seit ungefähr 15 Jahren schreibe ich nun schon Gedichte und habe immer geglaubt, darin würden die Worte automatisch schwerer wiegen als im Normalsprachlichen. Jetzt habe ich mit Erstaunen festgestellt: das stimmt so nicht ganz ;) Das mag zwar auf ihren Klang, Fokus und Bedeutsamkeit zutreffen, keinesfalls aber auf das Wortgewicht selbst, so man es denn in Buchstaben messen würde (Quotient aus Buchstaben- und Wortzahl eines Textes). Was dabei auffällt: in kaum einem anderen Satzgeflecht fällt diese mittlere Wortlänge so gering aus wie in Gedichten. Wie nun: Verdichtung durch Auflockerung? Unsere hagelnden Geistesgewitter-Zusammenballungen also nichts weiter als eine leichte Bewölkung? Bedeutungsvolle Rauchzeichen? Nur ein luftiges Gebäck, das nach mehr schmeckt, als drin steckt? Oder behauenes Kleinholz, um Worte möglichst kunstvoll zu verheizen?
Zur Veranschaulichung - bis eben brachte es die Einleitung hier ohne Weiteres auf eine mittlere Wortlänge von 5,9 Buchstaben. "Poetische Luftigkeit" an ihrer Untergrenze hingegen könnte so aussehen:


Wunder


Du stehst! Du stehst!
Und ich
Und ich
Ich winge
Raumlos zeitlos wäglos
Du stehst! Du stehst!
Und
Rasen bäret mich
Ich
Bär mich selber!
Du!
Du!
Du bannt die Zeit
Du bogt der Kreis
Du seelt der Geist
Du blickt der Blick
Du
Kreist die Welt
Die Welt
Die Welt!
Ich
Kreis das All!
Und du
Und du
Du
Stehst
Das
Wunder!

(August Stramm)

In Zahlen: 3,8. Das Folgende hat mit 5,3 eine für Gedichte bereits bemerkenswert kompakte Art:


Aber seltsam !

Ein namenloses Heimweh weinte lautlos
In meiner Seele nach dem Leben, weinte,
Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff
Mit gelben Riesensegeln gegen Abend
Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt,
Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er
Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht
Den Duft der Fliederbüsche, sieht sich selber,
Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen,
Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht
Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer -
Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter
Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend
Mit gelben fremdgeformten Riesensegeln.

(Hugo von Hofmannsthal)

Und nur ganz wenigen gelingt es, wirklich einmal in den Dichtebereich alltagssprachlicher Wortgefüge vorzustoßen. Dieses z.B. mit 6,1:

Fräser

Gebietend blecken weiße Hartstahl-Zähne
aus dem Gewirr der Räder. Mühlen gehn profund,
sie schütten auf den Ziegelgrund
die Wolkenbrüche krauser Kupferspäne.

Die Gletscherkühle riesenhafter Birnen
beglänzt Fleischnackte, die von Öl umtropft
die Kämme rühren; während automatenhaft gestopft
die Scheren das Gestänge dünn zerzwirnen.

Eine Fäusteballen hin und wieder und ein Fluch,
Werkmeisterpfiffe, widerlicher Brandgeruch
an Muskeln jäh empor geleckt: zu töten!

Und es geschieht, daß sich die bärtigen Gesichter röten,
daß Augen wie geschliffene Gläser stehn
und scharf, gespannt nach innen sehn.

(Paul Zech)

Und darüber hinaus? Schafft es vielleicht nur experimentelle Lyrik ;) Dichter zu werden als die Wirklichkeit bleibt allerdings nicht folgenlos: die Texte beginnen dann zunehmend unleserlich zu werden bzw. merklich zu schmerzen ;) Nur wer wirklich wissen möchte, wie sich auf dieser Skala eine 9,7 anfühlen mag, sollte folgendes Silben-Palindrom konsumieren:

[
lichtweich verweichlicht ]

Das, Judoka, Minen in Licht: wirkverunglückt! Detonierscharfes Würgemal.
Sendtau: Wasserlogen-Außenbeitrag. Verzichtsverwalt-Gebärdenspiel:
Tauschwirtschaft mein Geben? Erdenbürger fingierten Gierfingerbürden.
Erbengemeinschaft. Wirttausch: spiel den Bär! Gewaltverzichtsvertrag:
Beißen Augenloser, was? Tausendmal: Gewürfes Scharnier-Tode.
Glückt unverwirklicht. Innen: Mikado-Judas.