Mittwoch, 25. Juli 2007

Ludwig Tieck: Eine Sommerreise


Ludwig Tieck's gesammelte Novellen. Vollständige auf's Neue durchgesehene Ausgabe. Siebenter Band.
Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer 1853, 376 Seiten









Kategorie: Buchstabenpalindrome
Art: Erwähnung

In der 1834 erschienenen Novelle "Eine Sommerreise" findet man diese phantastische Passage (S. 76f):
Trifft es nicht richtig ein, daß N e b e l rückwärts gelesen L e b e n heißt, und Leben Nebel? Eins ist die Quadratwurzel vom andern. Darauf sollten unsre Denker mehr lossteuern. Siehe, mein Kind: - wenn ich zu Einem sage, der noch nicht reif ist und es gern werden möchte: L e s e! so sieht das wie ein guter, verständiger Rath aus. Hat er aber tiefern Sinn und buchstabirt rückwärts, so merkt er im stillen Gemüthe wohl, daß ich ihn nur einen E s e l gescholten habe. O es ist ein ungründlicher Tiefsinn in diesen Betrachtungen. Nicht wahr, es giebt Mülleresel, wilde Esel, Esel zu Spazierritten u.s.w. - aber der völlig unvertilgbare, von vorn wie hinten sich immer gleich bleibende ist der von mir entdeckte L e s e - E s e l. Auch wenn ich imperativisch oder imperatorisch sage: E s e l, l e s e! bleibt er sich gleich, doch gefällt obige Thierart in der Bezeichnung besser, denn es stempelt sich darin jenes ewig unermüdliche Geschöpf, jene unverwüstbare Kreatur, die wir hinter Ladentischen, auf Kaffeehäusern, unter den lieben Zeitungen und allerliebsten Journalen, Tagesblättern, Broschüren, Libellen (nicht den Insekten), Romanen und dergleichen sitzen sehn und schlingen - mit einem Wort, der in unserm Jahrhundert ausgebildeten Leseesel. Die vergleichende Anatomie sollte sich nur seiner bemächtigen und Gall seinen Schädel untersuchen. Wie in Afrika und Indien jene wandernden Ameisenheere oft unsäglichen Schaden anrichten und Verderben verbreiten, so fürchte ich für Europa und noch mehr für unser Deutschland die traurigsten Verheerungen von der Vermehrung und dem Ueberhandnehmen dieses Lese-Esels. Wie er denn nun von vorn oder hinten immerdar ein Leseesel bleibt, so sprach ich neulich schon mit einem denkenden Medicus über den Fall, ob das Thier nicht wirklich die Qualität noch erhalten könne und würde, auch von hinten, mit dem Sitztheile, sowie vorne mit seinen Augen zu lesen. Der Philosoph approbirte sehr meine Hypothese und meinte, das Monstrose sei immerdar nicht den gewöhnlichen Naturgesetzen unterworfen. Und wirklich, wie ich wieder die sogenannte Ressource besuchte, wo ich die beste Sorte und die qualificiertesten dieser Leseesel zu finden gewohnt war, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß diejenigen, die in der Entwicklung am meisten vorgeschritten waren, unruhig auf ihren gepolsterten Bänken beim aufmerksamen Lesen hin und wieder ruschten, sich bald stärker auf das Polster drückten, bald lüfteten, bald sich rechts, bald links hin bewegten, als wenn sie ein besseres Licht erstrebten. Ich sah aber deutlich, daß ihnen oben nichts fehlte, ihr Fundament aber einen Mangel verspürte. Der Vorsteher dieser Ressourcen-Anstalt oder dieses Casino-Wesens ist ein denkender Mann; ich nahm ihn beseit in ein Nebenzimmer, von wo man durch Glasthüren Alles im Saal beobachten kann, und machte ihn auf jenes bedenkliche Hin- und Herrutschen aufmerksam. "Wollen Sie denn nicht, suchte ich ihn zu persuadiren, vielleicht morgen den Versuch machen und einige gute lesbare Journale, oder einige scharfe Schriften gegen die Regierung über jene Polster spannen lassen, um zu sehn, ob meine Vermuthung sich bestätigt?" "Wie, Herr, fuhr mich der Mann an, indem er mich mit seinen großen Augen betrachtete: was fabeln Sie mir da von einer neuentdeckten Thierart? Es sind lauter würdige Herren und ausgezeichnete Männer, die das Beste des Landes und der Welt im Auge behalten. Sie rutschen heute übermäßig, das ist wahr, das kann aber auch vom Denken und vom bewegten Gemüthe herrühren. Auf keinen Fall aber dürfte ich es gestatten, wenn Sie auch wirklich Recht hätten, daß alle diese Mitglieder in Naturalibus da säßen, um zwei Zeitungen zu gleicher Zeit lesen zu können." "O Sie kurzsichtiger Mann! rief ich aus; brauchen Sie denn nicht selbst Brillengläser? Sieht man nicht durch einen Flor und Sieb? Und so würden sich die Beingewande gestalten; Fabrikherren würden mit scharfem Blick die Zeuge entdecken und verfertigen, durch welche sich am besten lesen ließe; neuer Flor des Gewerbes, frische Aufmunterung zur Arbeit und Speculation."
So stand die Sache vor meiner Abreise, eher ich in das Nebelleben oder den Leben-Nebel gerieth. Wie ich zu meinen Reisegefährten zurück kam, weiß ich selbst nicht, wie aber in der Nacht der Kamin so gewaltig rauchte, war ich wieder bei ihnen und bei mir.

Das hier vorgestellte Exemplar befindet sich im digitalisierten Bestand der Google-Buchsuche und ist dort vollständig online zugänglich.